Liebe Studentinnen und Studenten und sonstige Nutzer dieser Psychologie-Scripte & Lernhilfen!
An meiner Statistikauswertung kann ich sehen, daß diese Seiten sehr viel genutzt werden. Die Serverkosten sind aber recht hoch, und irgendwie muß ja das alles wieder reinkommen! BITTE setzt daher auf Euch zugänglichen websiten Links zur Startseite www.psychonomie.de und dieser Seite oder den folgenden! Dadurch kann ich die Seite für Euch kostenlos vorhalten und anderweitig damit die Kosten decken! Danke!


 

Die Theorie der psychologischen Reaktanz
Literatur:
Theorien der Sozialpsychologie Bd. I (Frey/Irle Hrsg) Kognitive Theorien Verlag Hans Huber 2.Aufl.1993
Sozialpsychologie (Frey/Greif) Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen 4.Aufl.1997 Beltz Verlag Psychologie Verlags Union



- Brehm (1966)

- erlebt eine Person, die glaubt, sich in einer bestimmten Situation grundsätzlich frei verhalten zu können, eine Einengung, so daß die Freiheit geringer oder ganz aufgehoben wird, entsteht psychologische Reaktanz
- Reaktanz ist ein motivationaler Erregungszustand mit dem Ziel, eine bedrohte oder abnehmende oder gänzlich eliminierte Freiheit wiederherzustellen.
- dies kann durch kognitive Verarbeitungsstrategien (Aufwertung/Abwertung), bis zu aggressivem Verhalten geschehen
- R. ist umso stärker,
        - je mehr Freiheiten bedroht sind
        - je wichtiger die bedrohte Freiheit ist
        - je stärker die Freiheitsbedrohung ist

- Die Wichtigkeit der Freiheit bestimmt sich an der Erwartung dieser Freiheit und von der Befriedigung durch diese Freiheit
- die Attraktivität der verlorenen Freiheit steigt
- Freiheitseinengung mit bedrohlichen Implikationen für die Zukunft führt zu stärkerer Reaktanz
- dies kann auch der Fall sein, wenn eine Person als Zeuge die Einengung anderer Personen beobachtet, oder davon erfährt, und impliziert, daß dies sie selbst auch betreffen könnte
- gleiches gilt für vorgewarnte Personen, die z.B. informiert sind, daß sie mittels einer Radiosendung zu einer bestimmten Meinung überredet werden sollen (Petty & Cacioppo, 1979)

- Integration der Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Seligman, 1975) :
durch fortgesetzte Freiheitseinengung kommt es nach anfänglichen Widerstandsreaktionen mangels Kontrollerlebens zum Gefühl der Hilflosigkeit und passivem Verhalten
- Reaktionsunterschiede begründen Wortman & Brehm durch die Erwartung, Kontrolle ausüben zu können, determiniert
    -ist die Kontrollerwartung hoch, so führt ein unkontrollierbares Ereignis zu Aktivität, um die Kontrolle wiederzuerlangen
- ist diese Aktivität wiederholt erfolglos, führt diese Erfahrung zu Hilflosigkeit.
- hier besteht ein direkter Bezug zu den Kontrolltheorien

- Erstreaktionen bei Freiheitseinengung sind Widerstand und Aggression (negativistisches Verhalten)
        - subjektive Effekte:
            kognitive Umstrukturierung        -----> kaum (nicht) kontrollierbar= höhere Auftretenswahrscheinlichkeit
        - Verhaltens-Effekte
            Aktionen gegen den Einenger ---> Verhalten oft anti-sozial auf Wiederherstellung des eigenen Freiheitsspielraumes gerichtet
 
            Verlassen der Situation

- aggressives, anti-soziales Verhalten wird i.d.R. nicht von einer sozialen Gemeinschaft akzeptiert, daher wird R. eher im Denken als im "Tun" abgebaut

- wenn R. als motivationale Erregung definierbar ist, müßten physiologische Veränderungen meßbar sein
    - Baum, Flemming,& Reddy (1986)
    - Personen mit hoher Kontrollerwartung (keine oder erst kurze Arbeitslosigkeit) hatten nach Erfahrung mit
      Nicht-Kontingenzen (eben negativen Ergebnissen) höhere Norepinephin  und Epinephin-Konzentrationen im Urin.

- Problem: Operationalisierung ist sehr schwierig und sollte immer in der Konzeptbeschreibung enthalten sein.

- latente Reaktanz: Vpn zeigen keinen Widerstand, sondern nur weniger starkes Nachgeben gegenüber einem sozialen Einfluß (Supermarktexperiment)

- Romeo & Julia-Effekt: Intensivierung der Liebesgefühle bei einem Verbot einer Beziehung ebenso wie beim "hard-to-get"-Phänomen. Die Freiheit wird durch Aufwerten der bedrohten Freiheit (hier Partner) wieder hergestellt, im Verhalten zeigt sich Opposition.
- Experimente mit Keksen (Worchel, Lee & Adewole 1975): Knappheit, Abnehmen des Vorrates und große Nachfrage vergrößern den Wert eines Gutes

- Akzeptanz (z.B. aus sozialen Gründen, aus Glaubwürdigkeitsgründen oder selbstauferlegter Freiheitseinengung) ruft keine psychologische Reaktanz hervor

Manifestationen von Reaktanz
1. Direkte Wiederherstellung der Freiheit
- bei Vorgabe, man dürfe heute nur Brot der Marke X kaufen, wird die Freiheit durch Kauf der Marke Y wiederhergestellt
    - dies gilt nicht
                       wenn kein Brot der Marke X mehr vorhanden ist
                       wenn offener Widerstand negativere Folgen hätte, als es die Freiheitseinengung darstellt

2. Indirekte Wiederherstellung der Freiheit:
- Ausweichen auf eine dem bedrohten Verhalten ähnliche Handlung (Kauf Brotsorte Z)
- Kauf Brot X, wenn Alternative vorgegeben (Kaufe dieses oder jenes)
- Motivation einer anderen Person, Brot Y zu kaufen, oder Person 2 dabei beobachten

3. Aggression
- R. führt zu einer Abnahme der sozialen Orientierung
- R. ist oft mit Aggression verbunden
- Aggression gegen Personen: soziale Quelle der R. wird bekämpft (functional aggression / reflexive fighting)
- Aggression gegen unbelebte reaktanzerzeugende Freiheitseinenger deuten auf Erregungsabfuhr hin (Ventilfunktion)

4. Attraktivitätsveränderungen
- wenn Freiheitswiederherstellung durch Handlung nicht möglich
- besonders bei Freiheits-Ausschaltung zu beobachten
- Reaktanz als Folge der Bedrohung einer Alternative führt zur Attraktivitätssteigerung dieser Alternative

Delay- oder Sleeper-Effect: die Reaktanz wird gespeichert, bis sich die Möglichkeit ergibt, die verlorene Freiheit wieder herzustellen

- bei Mißerfolgserlebnissen zeigen Personen mit hohem Selbstwert Reaktanz, solche mit niedrigem Selbstwert dagegen Hilflosigkeit

- Reaktanzfragebogen von Merz (1983): 18 Items in Ich-Form.
    -macht Aussagen über die Bereitschaft einer Person, psychologische Reaktanz zu mobilisieren
    - hoher Testwert= niedrige Toleranzschwelle = viel Reaktanz/ niedriger Testwert: Unempfindlichkeit gegen Reaktanzerzeugung
- Korrelation des Fragebogens mit Autonomie- und Dominanzstreben, Nervosität, emotionaler Labilität, Unsicherheit und Gehemmtheit, Depression und ähnlichen Attributionsmustern
- besonders unsichere Personen müssen zum Schutz des eigenen Freiheits- und Kontrollspielraumes rebellierend reagieren

Reaktanz bei Hilfeersuchen
- Fall Genovese: 38 Personen beobachteten die Ermordung einer Frau ohne einzugreifen
- Berkowitz (1970) erklärt dies: wenn die um Hilfe gebetene Person sich durch die Bitte um Hilfe in ihrer freien Entscheidung eingeengt fühlt, entsteht Reaktanz.
Schwartz (1974) wies in einem Experiment nach, daß starke Bedeutung der Hilfe (und der zukünftigen Konsequenzen derselben) wie illegitimer Druck wirkt. Sind die Konsequenzen bewußt, sinkt die Reaktanz-Schwelle, und es kommt leichter zur Hilfeverweigerung

- Jones (1969/1970): einer abhängigen Person wird weniger Hilfe geleistet, wenn es möglich war, Hilfe zu verweigern
- generell zeigt sich stärkere Hilfeverweigerung, wenn man sich eingeengt oder moralisch verpflichtet fühlt
- besondere Form der Freiheitseinengung, wenn der Hilfesuchende zuvor dem Helfer einen Gefallen getan hat - auch hier entsteht durch den Gefallen für den später Helfenden ein "Bestechungsversuch", der dessen Entscheidungsfreiheit einengt, so daß dieser demonstrativ die Hilfe verweigert.
- Harris & Meyer (1973) differenzieren nach öffentlich kontrolliertem Verhalten (keine Hilfeverweigerung möglich) und nichtkontrolliertem Verhalten. In den Arbeiten von Jones (1969,1970) wurde die Hilfe nur verweigert, wenn dies möglich war.
- dennoch bleibt die Annahme, daß bei starkem normativem Druck das private Reaktanzverhalten anders ausfällt, als ohne öffentliche Kontrolle.

Kontrolltheorie
- nicht der Verlust der Wahlfreiheit zwischen Alternativen führt zu Reaktanz, sondern der Verlust von Kontrolle über die Ereignisse

Kognitive Dissonanz
- Entscheidungen zwischen 2 Alternativen führen zur Eliminierung der nicht gewählten
-  nach der Dissonanztheorie steigt die Attraktivität der gewählten Alternative, die der nichtgewählten Alternative sinkt (spreading apart-Effekt)
- bei der Reaktanztheorie soll die Attraktivität der nicht gewählten Alternative steigen, und die der gewählten an Attraktivität verlieren  (regret Effekt)
- Cervi-da-Costa zeigt in einem kritischen Experiment zu beiden Theorien, daß eher dissonanztheoretische Vorhersagen eintreffen

 Negative Attitüdenänderung (Bumerang-Effekt)
- Zensur macht den verbotenen Inhalt attraktiver = Attitüdenänderung in die verbotene Richtung
- Verhaltensvorhersagen als besondere Art der Festlegung auf eine Attitüde haben unbeabsichtigte Wirkungen dergestalt, daß die sich in der Vorhersage wiederfindenen Personen diese Vorhersage als Freiheitseinengung auffassen, und zur Wiederherstellung ihrer Freiheit anders als vorhergesagt reagieren

Negativistisches Verhalten in psychologischen Experimenten
- Vpn fühlen sich durch Versuchsleiter eingeengt, und boykottieren aufgrund psychol. Reaktanz
 - unerwünschte, evtl.sogar gefährlich verfälschende Nebeneffekte möglich (Artefakte)

Territorialverhalten
 - räumliche Enge erzeugt unangenehme Einengung und damit Reaktanz
- bei Diskussion in einem sehr kleinen Raum erzeugt körperliche Nähe feindselige Gefühle, und es wird versucht, Reaktanz abzubauen
 - Territorialverhalten wird erklärt als Freiheits-und Kontrollmacht zur Sicherung des privaten Lebensraumes.
Invasionen und Barrieren wirken freiheitseinengend und rufen Reaktanzmotive mit entsprechenden Effekten hervor.

Kaufverhalten
- Brotexperiment (siehe oben)
- kein Einfluß: 24% kauften Brotsorte X
- mäßiger Einfluß (Bitte kaufen Sie...) 70% kauften Brotsorte X
- starker Einfluß (Sie müssen kaufen...) nur 51% kauften Brotsorte X

---
Fragebogen mit Geldbeifügung
- generell Erhöhung der Rücklaufquote
aber wenn zu hoher Geldbetrag (starker monetärer Einfluß), kam entweder das Geld oder der unausgefüllte Fragebogen zurück

---
Mensa-Essen

West (1975) fand, daß sich die Einstellung zu einer bestimmten Mensa (bzw. dem dort offerierten Essen) sich deutlich verbesserte, wenn die Studenten die Information erhielten, daß die Mensa A für 2 Wochen geschlossen werden (Vorwand: ein Feuer) Eine nur mäßig attraktivere oder gar negativ beurteilte Alternative wird besser beurteilt, wenn sie eliminiert wird.

Interpersonale Attraktivität und romantische Liebe
- aufdringlich und erdrückend empfundene Zuneigung engt den Freiheitsspielraum ein
- Entzug eines bestimmten Partners (Romeo & Julia Effekt, siehe auch oben) wird als Freiheitsbedrohung erlebt
- ein sich rar machender Partner gewinnt an Attraktivität
- aus der Gruppendynamik bekannt: Auftreten eines äußeren Feindes steigert den Zusammenhalt von Gruppen

Gesundheitspsychologie
- Alkoholiker bei einer Therapie das Gefühl der internen Kontrolle
- Reaktanz tritt auf bei Behandlungsarten, die interne Kontrolle vermeiden oder verhindern (konditionieren)

- bei Typ-A-Herzinfarkt-Patienten, die sich für alles verantwortlich fühlen und sehr sensibel auf alle außergewöhnlichen, sie einengenden Ereignisse reagieren, wirkt der entstehende Widerstand gegen die Behandlung heilungshemmend.

- Vermeidung von Reaktanz und Kontrollverlustgefühlen wenn  Senioren, die statt in ein Alten/Pflegeheim "eingewiesen" wurden, selbst diesbezügliche Entscheidungen treffen konnten.

Kindererziehung

- U-förmige Beziehung zwischen Wichtigkeit von Freiheit und erzieherischen Verboten
- nach zunächst verstärkter verbotener Handlung schwächt sich das Auftreten ab
- Widerstand zeigt sich nur, wenn die Freiheitsaktivitäten (Trotzverhalten) hin und wieder erfolgreich waren
- soll das unerwünschte Verhalten endgültig gelöscht werden, darf das Kind keinerlei Erwartung haben,dieses Verhalten ausführen zu können
- Abwägen zwischen autoritärer und permissiver Erziehung
- wenn Gehorsam gewünscht, darf keine Verhaltensfreiheit möglich sein
- bei kreativem Entwicklungsziel (Schaffung von Verteidigungsstrategien gegen Verbote), genügen GEBOTE
- vermeidet man Verbote, vermeidet man auch Reaktanz
 

Kriminologie und forensische Psychologie
- bei versuchter Einflußnahme auf die Urteilsfreiheit von Vpn (Angabe eines Schadens für den Angeklagten bzw. Urteil des Staatsanwaltes gegen den Angeklagten) tritt Reaktanz auf

Reaktanz bei Tieren?
- mentalistisches Freiheitskonzept nicht verbal verifizierbar
- Reaktanz ist allerdings nicht nur abstrakte "Freiheit", sondern bezieht sich auf konkrete Verhaltensmöglichkeiten
- in anderen Forschungsbereichen wurden bei Tieren Verhaltensmuster beobachtet, die große Ähnlichkeiten zum Reaktanzverhalten aufweisen
- psychologische Forschung wird im Text nicht beschrieben



Abschließende Betrachtung
- Reaktanztheorie ist auch als strategische Variante bei sozialen Einflußversuchen in Erwägung zu ziehen
- Provokation bestimmten Verhaltens durch Verbote möglich
- Mangel an ethischer Diskussion
- Freiheitsbegriff müsste besser definiert werden
- Vorhandensein von Handlungs- und Wahlalternativen mit der Möglichkeit, diese für sich zu nutzen
- Verweis auf die Nähe zu den Kontroll- und Machttheorien



 Wieder zurück zum Seitenanfang
 

Zurück zum Exzerptverzeichnis          Zur Uni-Startseite         Was zu meckern, loben oder ergänzen?