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Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung
aus Theorien der Sozialpsychologie Bd. I (Frey/Irle Hrsg) Kognitive Theorien Verlag Hans Huber 2.Aufl.1993



1.Grundausagen
- Jerome Bruner & Leo Postman 1951
- Frage nach der sozialen Determination der Wahrnehmung
- Interpretationen über aufgenommene Reize sind davon abhängig, auf welche kognitive Prädisposition diese trifft
- Modifikation und Erweiterung des bis dahin führenden "directive state"-Konzeptes

2.Directive State-Theorie der sozialen Wahrnehmung
- angenommener direkter Einfluß sozialer Variablen auf die Wahrnehmung

2.1. Thesen zum Directive State-Konzept
- körperliche Bedürfnisse determinieren die Wahrnehmung tendenziell
- Belohnungen und Bestrafungen determinieren die Wahrnehmung in assoziierten Reizsituationen
- subjektiv charakteristische Werthaltungen beeinflussen die Wiedererkennungszeit von Wörten, die drauf bezogen sind
- der zugeschriebene Wert determiniert die wahrgenommene Größe
- Umwelt wird so wahrgenommen, wie diese mit den Persönlichkeitseigenschaften konsistent ist
- Verwirrende und bedrohliche Reize erfordern eine längere Wiedererkennungszeit, als neutrale Reize
    - emotionale Aktivierung bereits vor endgültiger Identifizierung des Reizes

2.2. Kritik am Directive State-Konzept
- mehrdeutige und widersprüchliche Ergebnisse in Experimenten,  bedingt durch Designmängel und fehlerhafte
  Operationalisierungen
- keine Erklärung von Wahrnehmungsabwehr (Alternativentscheidung zwischen  Wahrnehmungsmodellen?)
- Bedürfnisse, Motive und Werte werden als wirksam beschrieben, aber die Wirkungsweise bleibt unerläutert
- Beteiligung anderer kognitiver Prozesse? (Relevanz vs. Inhalt?)
- keine Berücksichtigung der Vorerfahrungen der Vp (diese determiniert aber die Wahrnehmungsbereitschaft)
- unterschiedliche Ergebnisse zwingen zu permanenter Neuannahme jeweils anders wirkender Mechanismen

3. Die Hypothesentheorie
- jeder Wahrnehmungsvorgang beginnt mit eienr Hypothese (perceptual set/ cognitive predisposition)
- dies sind Erwartungs-Hypothesen, welche die Wahrnehmungssuche "leiten"
- nicht die Bedürfnisse, Werte und motivationalen Zustände sind wahrnehmungsdeterminierend, sondern die
  Erwartungshypothese (B,W, M sind nur noch Dimensionen des perceptual set)
- soziale Wahrnehmung als prozessuale Bedingung (nicht strukturell)
- beobachtet werden die Beziehungen zwischen Denk-, Erfahrungs- und Planungsperspektiven des Beobachters

3.1. Implikationen
- Wahrnehmung der Stimulussituation ist nicht zufällig oder beliebig
- bestehende Hypothesen werden verfestigt, geändert, ergänzt oder gelöscht (ersetzt)
- wiederholte Wahrnehmungsvorgänge bilden ein verfestigtes Hypothesensystem
- dies führt zur Bildung von Wissensvorräten oder sozialer Repräsentationen, die sowohl inhaltlich-interpretative
   Momente wie auch Strategien zur Lösung von Wahrnehmungsaufgaben beinhalten

3.2. Zentrale Konzepte der Hypothesentheorie

3.2.1. Wahrnehmungs-Erwartungsmodell
- die Erwartungshypothese steht am Beginn jeder Wahrnehmung
- diese wird aus dem kognitiven Repertoire ausgewählt
- tendenziell entscheidet die Erwartungshypothese darüber, was (sekundär) wahrgenommen wird
- dabei kann es Monopol- und Superhypothesen geben
- diese können ranggeordnet oder von unterschiedlicher Stärke sein

3.2.3. Hypothesenstärke
- Konstrukt der Hypothesentheorie
- eine starke Hypothese bestimmt primär die Wahrnehmungsergebnisse (konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung )
- es werden jedoch auch Wahrnehmungsituationen unter der Bedingung einer schwachen Erwartungshypothese einbezogen
- Wahrnehmungsaufgaben bei schwachen Erwartungshypothesen erforden höheren kognitiven Einsatz durch Bildung
  zusätzlicher Hypothesen aus der Situation (datengesteuerte Informationsverarbeitung).
- Dabei werden Wahrnehmungen umstrukturiert und neu bewertet.

3.3. Das Prüfverfahren
- es erfolgt ein Durchlaufen eins dreistufigen Zyklus (Bruner 1957)

    1.Bereitstellung einer Erwartungshypothese
    2.Informationseingabe (-aufnahme) über den wahrzunehmenden Gegenstand
    3.Hypothese bestätigt: Wahrnehmung wird abgeschlossen
       Hypothese widerlegt: Zyklus beginnt von neuem (mit neuer Hypothese)

- dabei wird das Hypothesenreservoir nicht etwa um nicht bestätigte Hypothesen reduziert, sondern die
  nicht bestätigte Hypothese verbleibt im Reservoir
- dies betrifft insbesondere Hypothesen bzgl.zentraler Lebenslagen, aber auch Expertenwissen bleibt gespeichert
- angestrebter Perspektivewechsel bedingt höheren kognitiven Aufwand zur Informationsfindung gegen die
  gängigen Hypothesen und verzögert die Lösung einer Aufgabe
- Positivitäts-Bias: Superhypothese, nach welcher in der Personenwahrnehmung überwiegend positive Informationen
                                  gesucht werden und Bestätigungsstrategien vorherrschen
- Vermutung: Bestätigungstrategien werden für die Vorhersage, Widerlegungsstrategien für die Erklärung von
                          Ereignissen herangezogen
- nicht passende, ständig widerlegte Hypothesen werden gelöscht, um Fehlanpassungen zu verhindern

3.4.Kernannahmen
je stärker eine Hypothese ist,
        -desto größer die Wahrscheinlichkeit ihrer Aktivierung (priming)
        -desto geringer ist die zu Ihrer Bestätigung notwendigen unterstützenden Reizinformation
        -desto stärker muß die Menge widersprechender Reizinformation sein, damit sie widerlegt werden kann

3.4.1. Alternativ-Hypothesen
- je größer die Zahl konkurrierender Hypothesen, umso größer muß die Menge passender Reizinformation sein, um eine davon zu bestätigen
- je größer die Zahl alternativer Hypothesen, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich irgendeine von ihnen bestätigt
- die Hypothesen "wetteifern" miteinander, und stärkste, die für die Information passend ist, wird bestätigt
- unklare Reizsituationen:  geringe, unspezifische Information bei gleich schwachen Hypothesen
- mehrdeutige Situationen: große Informationsmenge, verschiedene Lösungsgesichtspunkte enthalten,

3.4.2.Experimente
- Reduzierung der Anzahl verfügbarer Hypothesen durch Vorbereitung der Vp auf eine zu erwartende Situation
- Wahrnehmung ist effizienter, wenn Aufmerksamkeit z.B. auf eine einzige Klasse von Worten, die im Tachistoskop
   erschienen, gerichtet war (Bruner & Postman 1949)
- Stereotyp: Reduktion von Alternativen auf eine einzige starke Hypothese (im Sinne einer monopolistischen,
  nicht veridikalen Hypothese über eine Klasse von Sachverhalten) - nicht-veridikal= monopolistisch
- Stereotyp wird schon durch eine geringe Menge an Reizinformation bestätigt- z.B. alle Juden sind geschäftstüchtig

3.5.Motivationale Einflüsse
-  diese waren im Directive State-Konzept des "new look in perception" die einzigen und alles entscheidenden
   Determinanten der Wahrnehmung
- wirken selektiv durch Hinlenkung auf hypothesenunterstützende, und Weglenkung hypothesenkonträrer Information
- Prädisposition der Erwartungshypothese
- Kausalbeziehung zwischen Bedürfnissen, Trieben, Wünschen und Wertvorstellungen ( hot cognitions)
- Selektions- und Attributionsmechanismen, Defizite und Irrtümer bezeichnet man dagegen als cold cognitions
- nach der Hypothesentheorie wirkt jeder motivationale oder emotionale Zustand
- Negativitäts-Bias: bei Depressionspatienten wurde beobachtet, daß versucht wird, positive Informationen zu falsifizieren,
   wodurch diese nach und nach aus dem Repertoire ausscheiden

3.5.1.Ergebnisse der Forschung zu motivatonalen Einflüssen
- Häufigkeit bedürfnisbezogener Wahrnehmungsantworten als Funktion zunehmender Intensität von
  Bedürfnissen (Hunger, Durst, usw.) nimmt bis zu einem gewissen Grad zu, steigert sich dann aber nicht mehr
  (bei Nahrungsentzuug keine Steigerung der nahrungsbezogenen Responses ab 20 Stunden)
- stark selektive Ausrichtung der Objektwahrnehmung durch Werthaltungen und emotionale Haltungen.
- höhere Wahrnehmungssensitivität bei negativen (also bedrohlichen) Verstärkern (=stärkere Hypothesen)
- je höher ein Wert eines Objektes, umso größer ist es
- hingegen auch: je kleiner ein Objekt ist, umso wertvoller
- perceptual defense (Wahrnehmungsabwehr): hohe Wahrnehmungschwelle
- perceptual vigilance (Wahrnehmungserleichterung): starke Hypothesen stehen "bereit"
- Annahme: Wahrnehmungsabwehr tritt in Situationen auf, in welchen eine Superhypothese der sozialen Erwünschtheit eine
  Wahrnehmungsantwort verhindert (z.B. bei der Präsentation von Tabu-Wörtern)

3.5.2. Kognitive Einflüsse
- je fester eine Hypothese im kognitiven System eines Beobachters verankert ist, desto geringer ist die notwendige
  Menge an passender Reizinformation zu ihrer Bestätigung, und umso größer ist die Änderungsresistenz.
- es bestehen Bezüge zu Nachbarhypothesen (Begründungszusammenhänge)
- je stärker die Bezüge, umso mehr Änderungsbedarf zur Änderung einer Hypothese entsteht
- bei großer Informationsmenge werden eher Selektions- bei geringer Informationsmenge eher kognitive
  Ergänzungsmechanismen wirksam.
- Salienz Effekte: Hervorhebung oder Betonung bestimmter Reizaspekte erhöht die Wahrscheinlichkeit bestimmter
                                Hypothesen (z.B. einzelne, auffallende Ausländer in einer Personengruppe)
- Vividness: konkrete Informationen sind interessanter als abstrakte und haben größeren Einfluß auf die Hypothese
- je geringer die Menge unterstützender Reizinformation, desto stärker ist die Tendenz, daß eine dominate Hypothese die Lösung der Wahrnehmungsaufgabe übernimmt (Präsentation blauer Bananen: Ergebnis: Bananen)
- angesichts nicht vereinbarter Information kommt die Dominanzhypothese zum Zuge

3.5.3. Soziale Einflüsse
- vemutlich die wichtigste Determinante der Wahrnehmung
- ohne passende Reizinformation dient die Übereinstimmung mit Dritten zur Bestätigung einer Hypothese
- Impliziter Konsens: Wert- und Normvorstellungen und Interpretationsrichtlinien als Super- und Leithypothesen
      z.B. unterschiedliche Tiefen- und Farbwahrnehmung westlicher und nicht-westlicher Kulturen
oder aus der Attributionsforschung: Kausalattributionen von Erfolg und Mißerfolg:
bei uns: Erfolg internal, Mißerfolg external attribuiert, im ostasiatischen Kulturkreis umgekehrt!
-Expliziter Konsens: konkreter sozialer Kontext: Gruppendruck (Asch)
                                      soziale Erwünschtheit wirkt wie eine Superhypothese

3.6. Hypothesentheorie und Schemaforschung

                                Hypothesentheorie                                                                               Schemaforschung
klar definierte Erwartungen über Reizzustände  
Wahrnehmungsvorgang (prozessual) Gedächtnis 
Dominanz einer Hypothese Salienz
Hypothesenstärke
relationales Beziehungsgeflecht kognitive Schemata heterogen und teilweise divergent

3.7. Hypothesentheorie und Forschungen zur sozialen Kognition
- Vorgänge "hinter" den Hypothesen und Schemata
- Art und Organisation der im Gedächtnis gespeicherten Informationen sowie deren Implikationen

3.8. Hypothesentheorie und Dissonanztheorie
- sind eng verflochten
- Informationsverarbeitung und Informationssuche
- relevant für Risiko- und Gefahreneinschätzung
- Suche und Bewertung von Informationen im Lichte ein Hypothese oder einer tentativen Entscheidung
- Dissonanz entsteht dann, wenn zwei Kognitionen einer subjektiven Hypothese widersprechen

4. Exemplarische Anwendungsgebiete
- negative Warentest-Informationen wirken wie starke Hypothesen bei der Kaufentscheidung
- Gerüchte (Erfolgserklärung attraktiver Frau: Verhältnis mit Chef: aus motivationalen Beweggründen: Neid, Haß, Eifersucht)
- Intrigen (Juden sind Brunnenvergifter)
- Hypothesen-Repertoire wird durch lebenslange Sozialisationsprozesse geprägt
- Prozess der Wahrnehmungs-Sozialisiation: Veränderung der (alterungsbedingten) Lebensumstände führen zu einer
  Verschiebung im  Hypothesen.-Repertoire durch Löschung alter und Bildung neuer Hypothesen
- Lehrerverhalten in Gruppensituation nach prädispositiver Schilderung seines Charakters (warm-/kaltherzig)
- Urteilssimplifizierung durch Stereotype (Vp mit Vorurteilen gegen Schwarze schätzen deren Hautfarbe dunkler, als diese tatsächlich ist)
- Entscheidungsstabilisierung durch Beharrungsvermögen des kognitiven Systemes bzw. dessen Variabilität
- Urteilshomogenität (Cooper et.al. 1975): Studienerfolg einer Person wird höher eingeschätzt, das Erreichen eines höheren
  akad.Grades wird zugetraut, wenn die einzuschätzende Person der Mittelschicht zugeordnet wurde.
  Weiße Personen der Mittelschicht wurde größere Selbstverantwortung für Mißerfolge im Studium zugeschrieben, als allen
  anderen Personen. Je geringer die Schulbildung der Vp war, umso stärkere Bindung an das Sterotyp.
- Self-Fulfilling-Prophecy: je größer der Wunsch nach Eintritt eines Ereignisses, desto mehr Verhaltensenergie wird in diese
   Richtung gelenkt: high-expectancy-Schüler erhalten ein besseres soziales Klima, differenziertere Rückmeldungen, anspruchvollere
   Inhalte und mehr Antwortgelegenheiten.
- kognitives Rollenkonzept: in der Gesellschaft geteilte Erwartungen über adäquate Verhaltensweisen bei der Rollenausübung
- Organisationspsychologie und Konsumentenforschung
- Verhaltenserwartungen stellen einen besseren Prädiktor dar, als Verhaltensintentionen (Warshaw & Davis)
- Verhaltenstherapie: Selbstwirksamkeitstheorie (Bandura 1977): Hypothesen über das Selbst
- Sozialisationsforschung: unterschiedliche Lebensabschnitte, Untersuchung des Generationenkonfliktes
- Wirtschaft und Politik: Erwartungen über Zins-, Börsen und Marktentwicklung. Wirkung auf die Sparquote
  (nicht das derzeitige Einkommen ist entscheidend, sondern das erwartete: Konsumentenverhalten)
Dies hat Einfluß auf Konjunkturverläufe



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